Die dominante Funktion prägt unseren Alltag wie keine andere der acht Funktionen. Sie gibt unserem Handeln eine bestimmte Richtung. Wir lieben sie, da ihre Handhabung für uns ein Kinderspiel ist. Mit ihr gewinnen wir viele Preise. Kein Wunder also, dass wir uns lieber jenen Tätigkeiten und Verrichtungen im Alltag widmen, in denen unsere Lieblingsfunktion auf Hochtouren läuft. Das kann natürlich auf lange Sicht nicht funktionieren.
Eine der Grundannahmen der Typologie ist die Vorstellung, dass einer im Bewusstsein verankerten dominanten Funktion eine zweite Funktion folgt. Diese dient der Balance unserer Psyche und wird aufgrund ihrer Bedeutung auch als Hilfsfunktion bezeichnet. Eine stark entwickelte Hilfsfunktion verhindert, dass unsere dominante Funktion unsere Sicht auf die Welt und unsere Entscheidungen zu einseitig prägt und dadurch zu einem unangepassten Handeln führt. Dies würde auf Dauer unser seelisches und schlussendlich auch körperliches Wohl beeinträchtigen. Durch die Brille eines Biologen betrachtet verhilft eine starke zweite Funktion dem menschlichen Organismus zu einer optimalen Anpassung an seine Umwelt.
Auf www.myersbriggs.org findet sich zur Bedeutung der Hilfsfunktion folgende Erklärung von Gordon Lawrence.
„Ein Mensch, der seine dominante Funktion die ganze Zeit anwenden würde, wäre einseitig (entwickelt). Er würde die ganze Zeit Informationen aufnehmen und nie zu einer Entscheidung gelangen oder er würde zu überstürzten Entscheidungen neigen anstatt innezuhalten und Informationen aufzunehmen. …
Die Hilfsfunktion kann als erster Offizier auf dem Schiff betrachtet werden, wohingegen der Kapitän die dominante Funktion ist. Während der Pubertät und dem jungen Erwachsenenalter entwickelt der Menschen seine dominant Funktion und die Hilfsfunktion.“
Allerdings kann nicht jede beliebige Funktion zur Hilfsfunktion avancieren. Sondern für jede dominante Funktion kommen max. zwei Hilfsfunktionen in Betracht.
Als Hilfsfunktion kommt die Funktion in Betracht, die in der Lage ist, die Dominanz der ersten Funktion am besten auszugleichen.
Dabei gilt:
- Wenn die dominante Funktion introvertiert ist, ist die zweite Funktion extravertiert.
- Wenn es sich bei der dominanten Funktion um eine Wahrnehmungsfunktion handelt, muss es sich bei der zweiten Funktion um eine Urteilsfunktion handeln, und umgekehrt
- wenn es sich bei der dominanten Funktion um eine Urteilsfunktion handelt, ist die zweite Funktion eine Wahrnehmungsfunktion.
Dies erscheint mir auch einleuchtend. Wir können nicht nur im Außen leben, sondern müssen auch die Rückmeldungen unseres Organismus berücksichtigen. Wer sich krank und müde fühlt, sollte auf seinen Körper hören, statt mit seinen Bekannten die dritte Nacht durchzufeiern. Wer von seinem Chef eine Aufgabe erhält, deren Durchführbarkeit aus eigener Sicht zweifelhaft ist, sollte dies kommunizieren, sonst erleiden Firma und Mitarbeiter Schiffbruch.
Andererseits sollten wir uns auch nicht zu viel mit unserem Innenleben beschäftigen und dabei das Geschehen um uns herum vergessen. Wer stundenlang im stillen Kämmerlein grübelt, ob sein Plan funktionieren könnte, erreicht weniger, als derjenige der beherzt anfängt, auch wenn vielleicht der eine oder andere Punkt noch unklar ist. Letztlich wird ihm auch das Feedback seiner Umgebung zeigen, wo noch Schwachstellen sind.
Dies sind leicht nachvollziehbare Beispiele dafür, dass wir den Input von Außenwelt und Innenwelt und die Wahrnehmung und Beurteilung von Informationen zu angemessenen Teilen benötigen, um im Alltag handlungsfähig zu sein.
Wenn eine Welt zugunsten einer anderen vernachlässigt wird, hat dies ernsthafte Folgen für die Effektivität unseres Handelns. Diese Folgen sind zudem typenspezifisch. Nachfolgend soll dies anhand eines introvertierten und eines extravertierten Denkers erläutert werden.
Beispiel anhand eines Introvertierten Denkers
Tom ist ein INTP und studiert an der Uni. Er geht sehr selten unter Leute. Dafür liest er sehr viel zu ihn interessierenden philosophischen Themen. Diese sind oft sehr speziell, so dass er kaum jemanden findet, mit dem er sich in seinem Alltag darüber unterhalten kann. Wenn er von Kommilitonen angesprochen wird, ist der Austausch zumeist sehr kurz, es sei denn, eines der ihn faszinierenden Themen ist Gesprächsgegenstand. Außerhalb der Uni fühlt sich Tom oft ziemlich unbeholfen. Es fällt ihm nicht leicht, andere Leute um einen Gefallen zu bitten.
Tom ist ein introvertierter Denker. Er ist ziemlich stark introvertiert. Er zeigt deutliche Tendenzen, den Austausch mit seiner Umwelt insbesondere mit anderen Menschen zu meiden. Da er selten unter Leute kommt, hat er kaum Gelegenheit, die im Außen notwendigen Funktionen zu trainieren und anzuwenden. Dieses Manko kann dazu führen, dass Tom im Umgang mit seinen Mitmenschen aneckt, da er den gängigen Konventionen zu wenig Beachtung schenkt. Ein INTP, der die Außenwelt meidet, verfügt über zu wenig eigene Erfahrungen, um diese in seinem Inneren zu einem auch in der Außenwelt anwendbaren Modell zu verarbeiten. Sein Wissen wirkt auf die meisten seiner Mitmenschen esoterisch und abgehoben. Niemand außer ihm selber scheint hierfür Verwendung zu haben. Zusätzlich meidet er die Anwendung seiner minderwertigen Funktion, das extravertierte Fühlen. Diese Funktion hilft ihm, eine Verbindung zu seinen Mitmenschen aufzubauen. Ein solcher INTP mag zu dem Schluss kommen, dass die meisten Mitmenschen zu dumm sind, um ihn zu verstehen, anstatt sich hinaus in die Welt zu bewegen und die verschiedenen Sichtweisen und Beweggründe seiner Mitmenschen zu erkennen, deren Berücksichtigung sein Wissen praxistauglicher machen würden.
Beispiel anhand eines extravertierten Denkers
Ralf ist ein ESTJ und arbeitet als Teamleiter in einem JobCenter. Er ist bestrebt, die Ziele seines Geschäftsführers bei seiner Belegschaft durchsetzen. Die von der Geschäftsleitung festgelegten Quoten für den Abschluss von neuen Eingliederungsvereinbarungen bis zum Jahresende erscheinen seinem Team jedoch viel zu hoch. Ralf ignoriert die Beschwerden seiner Mitarbeiter und hält an den Vorgaben seiner Leitung fest. Wer bei ihm nachfragt, erhält als Antwort, „Sie erfüllen das Ziel – egal wie“. Einige Mitarbeiter melden sich in den kommenden Wochen vermehrt krank, ein Mitarbeiter wird mit Burnout diagnostiziert und beantragt letztlich Frührente. Die übrigen Mitarbeiter erfüllen die Quoten halbherzig, indem sie die meisten Arbeitslosen nicht wie vorgesehen einladen, sondern die Eingliederungsvereinbarungen ohne individuell besprochene Inhalte an ihre Kunden versenden und um Rücksendung bitten. Einige Mitarbeiter tragen die nicht zurückgesandten Eingliederungsvereinbarungen sogar vorgeblich als unterzeichnet in die Datenbank ein. Am 31.12. meldet Ralf die Erfüllung der Zielvorgaben der Geschäftsleitung.
Ein ESTJ nutzt seine extravertierte Denkfunktion, um klar definierte Ziele in der Außenwelt zu erreichen. Ralf hätte bei Berücksichtigung der Bedürfnisse seiner Mitarbeiter und seiner eigenen Erfahrungen (Si) den Schluss ziehen müssen, dass die Anforderungen der Geschäftsführung an die Angestellten nicht realistisch waren. Dies hätte er der Geschäftsleitung kommunizieren müssen, um eine Abänderung der vorgegebenen Quoten zu erreichen. Indem er es als Verantwortlicher unterlässt, seine Erkenntnisse der Leitung zu vermitteln, um eine Abänderung der Zielvorgaben zu erreichen, sind die Ergebnisse seiner Arbeit letztlich fragwürdig. Zwar erscheinen diese Ergebnisse auf den ersten Blick beachtlich. Bei näherem Hinschauen sind jedoch immense Schäden entstanden in – Form von Zahlungen an die kranken Mitarbeiter, Vertrauensverlust der Belegschaft in ihr Unternehmen und einer Menge inhaltsleerer und oft unwirksamer Eingliederungsvereinbarungen. Weder die Mitarbeiter noch die Kunden glauben an die Wirksamkeit der Geschäftspolitik des JobCenters. Gerade dieses Beispiel illustriert, dass der Schaden, den extravertiert urteilende Typen durch Missachtung ihrer eigenen Wahrnehmung anstellen oft Auswirkungen auf die Gemeinschaft und die von ihnen abhängigen Menschen hat.
Wenn ein Mensch seine zweite Funktion über eine längere Zeit vermeidet, führt dies unvermeidlich zu Konflikten und persönlichen Krisen. Diese lassen sich aus Sicht der Typentheorie am besten dadurch in den Griff bekommen, dass der Mensch sich auf seine zweite Funktion besinnt und dieser verstärkt Aufmerksamkeit widmet. Die zweite Funktion fungiert dabei als Brücke zwischen der Innen- und der Außenwelt. Wenn uns der Input unserer zweiten Funktion bewusster wird und diese unsere Entscheidungen verstärkt beeinflusst, beginnen wir allmählich, das breite Spektrum aller acht Funktionen zu nutzen.
Die bewusste Einbindung der zweiten Funktion ist ein wichtiger Schritt bei der Entwicklung der gesamten Persönlichkeit.