Wie mich der MBTI zu Carl Gustav Jung (CGJ) geführt hat und warum ich den MBTI trotzdem nicht anwende

Mit CGJ wurde ich vertraut, als mir in der Amerika-Gedenkbibliothek, wo ich während meines Jurastudiums lieber in der Psychologieabteilung herumstöberte, ein kleines Heft zur Typologie des MBTI ins Auge fiel. Ich kann mich noch heute genau erinnern, an welcher Stelle des Regals das Buch stand. Da ein Detailgedächtnis nicht zu meinen Markenzeichen gehört, ist dies für mich ein Hinweis für die Bedeutsamkeit, die diese Entdeckung für mein bisheriges Leben hatte. Ganz ohne Test erkannte ich meinen Typus aus 16 Profilen, die ich alle mit hohem Interesse las.

Damit hatte es zunächst sein Bewenden. Erst als die Beziehungen in meinem Leben komplexer wurden und damit die Konflikte zunahmen, befasste ich mich erneut mit dem Thema. Diesmal wurde meine Rückkehr zum MBTI aufgrund eines offiziellen Profilings durch die britische Berufskammer meines ersten Ehemanns ausgelöst. Die ENTP-Beschreibung war für mich eine Offenbarung. Dinge, die ich in unseren Ehealltag zwar so schon mitbekommen hatte, erhielten auf einmal einen Namen.

Durch das erwähnte Büchlein bekam ich indirekte Kenntnis von Carl Gustav Jung und seinem Werk „Die Psychologischen Typen“. Je mehr mich die 16 Typen des MBTI in ihren Bann zogen, desto öfter vertiefte ich mich in dieses Buch. Den 6. Band von CGJs Gesamtwerk ganz durchzulesen, fiel mir jedoch schwer. Zwar studierte ich das X. Kapitel und die Definitionen bestimmt zwanzigmal, jedoch kamen mir die Ausführungen von CGJ in den vorangestellten Kapiteln streckenweise zu langatmig vor. Auch die Quellen, auf die sich CGJ bezog, entsprachen nur in Ansätzen meiner eigenen Allgemeinbildung und viele Personen auf die CGJ verwies – abgesehen von einigen Klassikern – erschienen mir nur von historischem Interesse bzw. der Verweis darauf dem Zeitgeist geschuldet. Mit vielen Inhalten religiösen Ursprungs hatte ich durch meine Ostsozialisierung keine Berührung. CGJ beanstandete jedoch in einer Schrift, wie schade es sei, dass sich die meisten Leute nur für das X. Kapitel seines Werkes interessieren. Aus Respekt vor dem Schaffen CGJ besuchte ich seitdem schon einige Mal die bisher verschmähten Kapitel und habe dabei die eine oder andere Perle daraus mitgenommen.

Durch die Typologie von CGJ wurde mir bewusst, dass das Urteil eines Menschen durch seinen Typus geformt wird. Aus diesem Typus entspringt eine bestimmte Betrachtungsweise der Welt. In diesem Sinn ist das Verharren in meinem Typus eine Beschränkung auf einen bestimmten Blickwinkel, eine Art Abschirmung von der anderen Realität, die sich außerhalb dieses Typus befindet und dadurch typenspezifische psychische Probleme verursacht. Überhaupt der Gedanke, es gäbe eine Realität außerhalb meiner eigenen Wahrnehmung tauchte bis zu meiner Begegnung mit Carl Gustav Jung nicht auf.

Bis ich zu dieser Erkenntnis kam, vergingen jedoch einige Jahre. In diesen Jahren studierte ich mich und meine Mitmenschen sowohl im privaten als auch im beruflichen Kontext in und außerhalb von meiner Tätigkeit als Coach. Dabei kam ich zu der Einsicht, dass wir tatsächlich über diese von CGJ beschriebenen Prozesse verfügen und die Anwendung dieser Prozesse in aller Regel bei den meisten Menschen eine gewisse Einseitigkeit aufweist.

Wenn ich Menschen längere Zeit kenne, bin ich zumeist in der Lage, eine dominante Funktion auszumachen – oft entgegen dem Ergebnis von online erhältlichen Testinstrumenten. Sehr selten bin ich Leuten begegnet, die nicht von einer dominanten Funktion erfüllt waren. Bei den meisten Menschen wurde für mich schnell sichtbar, dass die sie bestimmenden Lebensfragen sich zumeist um Konflikte bei der Anwendung dieser Funktion drehten.

Während es schwer ist, unbekannte Menschen einzuordnen, fördern längere Begegnungen im Alltag und Gespräche zumeist recht schnell die dominante Funktion zutage. Oft lassen erstaunte Äußerungen meines Gegenübers wie: „Na, denken Sie nicht, dass das jeder so macht? Würden Sie es denn anders sehen?“ Rückschlüsse auf seinen Typ zu. Dies gilt vor allen für Menschen, die sich ziemlich stark mit den Inhalten ihrer Lieblingsfunktion identifizierten. Es gibt auch einige Menschen, die ihre dominante Funktion nach außen nicht zeigen wollen, wohl um mehr Konformität mit ihrer Umwelt auszudrücken. Wenn ihnen jedoch Gelegenheit gegeben wird, diese Funktion frei von Bewertungen ablaufen zu lassen, so scheinen sie regelrecht aufzublühen. Sie fühlen sich in ihrem Sosein bestätigt.

Ein weiterer häufiger Weg, den Typus eines Menschen zu ermitteln, ist es schlichtweg, in mich hineinzuhören und die Reaktionen wahrzunehmen, welche die Anwendung einer dominanten Funktion durch mein Gegenüber in mir auslösen. Von mir selbst gerne verwendete Funktionen führten zumeist zu positiven Einschätzungen des anderen. Begegnungen mit Menschen, deren Lieblingsfunktion ich nicht so oft auf dem Schirm hatte und deren Sinn und Zweck sich mir nicht erschlossen, waren eher unangenehm und lösten meist Abneigungen in mir aus, die ich nur durch meinen allgemein installierten Vorsatz – jeden Menschen mit Achtung zu begegnen – unterdrücken konnte.

Es gibt aber auch Menschen, bei denen es für das Coaching nicht relevant ist, die dominante Funktion zutage zu fördern. Oft erscheinen mir diese Menschen auch nicht sonderlich sich selbst bewusst, sondern wirken im Allgemeinen eher wie ein Produkt ihrer Außenwelt. Sie sind selten freiwillig im Coaching und ihre Themen drehen sich eher um ihre bloße materielle Existenz. Sie bieten zumeist einfache Erklärungen an für schwierige Sachverhalte. Über sich nachzudenken, scheint ihnen völlig unverständlich.

Erst in Konfrontation mit meinen eigenen unterentwickelten Funktionen im Alltag gelingt es mir, meine blinden Flecke – technisch ausgedrückt meine undifferenzierten Funktionen – aufzuspüren. Ich begann meinen Blickwinkel auf die mich umgebende Realität zu erweitern, indem ich diese bisher unbeleuchteten Bereiche meiner Psyche betrachtete. Auch wenn sich das leicht daher schreibt, ist dieses ein eher langsamer und schmerzlicher Prozess. Trotzdem fühlte und fühle ich mich verpflichtet, diesen Weg zu gehen.

Besonders wertvolle Unterstützung leisten mir dabei die Begegnung mit Menschen, die meine Ansichten nicht teilen und die mich häufig durch ihre – aus meiner Sicht – ignorante Art zur Weißglut bringen bzw. die mir umgekehrt klar machen, dass meine Vorstellungen für sie nicht diskutabel sind. Wenn sich solche Menschen ansonsten als moralisch integer herausstellen, steigen sie in meiner Hochachtung ungemein und ich nutze die Gelegenheit, meine schlecht ausgeprägten Funktionen an einem funktionstüchtigeren Modell zu studieren.

Wenn ich solche Menschen jedoch aufgrund ihres Charakters als unangenehm empfinde, danke ich ihnen zumindest in meinem Inneren für die Gelegenheit, Teile der Realität zu entdecken, die ich bisher ausgeblendet habe.

An dieser Stelle könnte ich weiter beschreiben, wieso es wichtig ist, seinen eigenen Typus zu erkennen. Ich werde dieses Thema bestimmt noch öfter aufgreifen. Hier geht es mir jedoch um die Frage, was ich den Herausgebern des MBTI schulde und wieso ich den MBTI trotzdem nicht empfehlen kann, jedenfalls wenn die gegenwärtige Situation unverändert bleibt.

Die schlechte Vermarktung des MBTI in Deutschland und der übliche Vermarktungsansatz, dem Kunden bei der Anwendung des Instruments angenehme Gefühle zu entlocken, erzeugen in mir einen inneren Widerstand. Ich verzichte daher bis heute darauf, die Lizenz für den MBTI-Typenindikator zu erwerben. Es ist einfach unseriös, dem Lizenznehmer zu versprechen, er könne nach einem Kurs von wenigen Tagen sinnvolle Aussagen zur Persönlichkeit seines Klienten treffen.

Grundsätzlich kann ich mich mit dem Gedanken abfinden, für die Anwendung des MBTI eine Lizenz zu erwerben. Abfinden kann ich mich jedoch nicht mit der Art und Weise, wie die Theorien von Carl Jung und sein eigentliches Lebenswerk durch banale Antworten und Behauptungen von schlecht ausgebildeten MBTI-Experten zu den 16 Typen ad absurdum geführt wird. Leider ist die Verbreitung dieser banalen Gedanken der Hauptgrund dafür, dass Menschen, die von der Typologie von Carl Jung profitieren würden, sich hiermit nie befassen werden.

Ich hatte die Gelegenheit, mit dem MBTI-Experten Peter Geyer zum Thema zu kommunizieren. Peter Geyer erzählte mir, dass Carl Gustav Jung von Isabell Myers Briggs den Typenindikator übersendet bekam. Er hielt es nicht für nötig, zu dem Instrument Stellung zu nehmen. Vermutlich widersprach der Ansatz des MBTI völlig der Weltanschauung des Urhebers der psychologischen Typen.

Vielen Menschen scheint nicht klar zu sein, dass der MBTI keine definitive Aussage zur eigenen Persönlichkeit trifft. Dies gilt übrigens auch für andere Instrumente, die auf der Typologie basieren. Das Testergebnis ist so gut wie das Einschätzungsvermögen der getesteten Person. Viele Menschen stellen sich die dort aufgeworfenen Fragen das erste Mal in ihrem Leben und sind nicht in der Lage, sich selbst einzuschätzen. Dafür gibt es erstaunlich viele testgläubige Menschen, die tatsächlich meinen, wenn es ein Testergebnis ist, dann muss die Antwort ja stimmen. Spätestens bei einer solchen Vorstellung keimt in mir der Verdacht auf, dass der Person die Fähigkeit fehlt, sich selbst zu reflektieren und sie äußeren Autoritäten eher Glauben schenkt.

An dieser Stelle schütte ich als Gegnerin aller Testgläubigkeit Asche über mein Haupt. Aus lauter Frustration über die schlechte Vermarktung des MBTI in Deutschland habe ich während meiner Elternzeit selbst einen Test erstellt. Allerdings ist er garantiert ohne wissenschaftlichen Anspruch. Er dient lediglich als eine weitere Möglichkeit, seinen Typ herauszufinden und ersetzt nicht das Nachdenken über die Validität des Testergebnisses. Es gibt mittlerweile sehr viele Möglichkeiten, seinen Typ zu ermitteln, besonders aussichtsreich empfinde ich solche Tests, die zwischen den kognitiven Funktionen differenzieren können. Hierfür einen Test zu entwickeln ist jedoch äußerst schwierig und die Anwender sollten schon etwas versierter mit der Typologie sein, um die feinen Unterschiede zwischen den Antwortmöglichkeiten zu verstehen.

Deshalb zum Abschluss hinterfragt eure Testergebnisse. Versucht zu verstehen, was diesen Typ wirklich ausmacht und warum es sogar problematisch sein kann, einem Typ zu haben und dies nicht zu erkennen. Das Wissen um eure typenbedingte Sichtweise auf die Welt ist auf jeden Fall wertvoll und je mehr ihr euch dessen bewusst seid, umso mehr Erkenntnisse könnt ihr für eure persönliche Entwicklung daraus ableiten. Viele Probleme in unserem Alltag beruhen auf der einseitigen Verwendung unserer Lieblingsfunktion.

Nur wenn ihr versteht, welche kognitiven Funktionen ihr gut und gerne anwendet, seid ihr in der Lage, euren Typus mit einer hohen Wahrscheinlichkeit zu bestimmen. Der MBTI spricht übrigens nicht von kognitiven Funktionen. Das ist ein weiterer Grund, warum ich ihn nicht anwenden werde. Damit verpasst der MBTI aus meiner Sicht das eigentliche Thema und verursacht jede Menge Stereotypen in der Vorstellung seiner Anwender. 

Wenn euch also der MBTI angeboten wird und ihr erfahrt nichts von euren kognitiven Funktionen, dann könnt ihr davon ausgehen, dass der selbst deklarierte Experte von der Bedeutung der Typologie keine Ahnung hat. Wenn er das Modell der kognitiven Funktionen tatsächlich kennt, dann schätzt er euch wahrscheinlich als unfähig ein, die Komplexität des Themas zu verstehen. Denn komplex sind die Gedanken von Carl Gustav Jung zur menschlichen Psyche allemal. Genau diese Komplexität mag ich, denn sie eröffnet uns neue ungeahnte Horizonte.