Eine gelegentlich verlautbarte Kritik gegenüber den MBTI-Typen ist der Vorwurf, Menschen würden in 16 Schubladen eingeordnet und das System des MBTI täte die Vielfalt menschlicher Charaktere unzulässig reduzieren; viele Menschen hätten Probleme sich zweifelsfrei einem bestimmten Profil zuzuordnen, und diese Zuordnung scheine auch von der Tagesform abzuhängen.
Das Argument des Schubladendenkens halte ich für unberechtigt. Meiner Meinung nach ist diese Gefahr nicht dem System des MBTI geschuldet sondern dem Verständnis des einzelnen Anwenders von der Aussagekraft des MBTI. Das System selber sollte nicht als statisch betrachtet werden. Nur weil ein Mensch bestimmte Prozesse gerne oder verstärkt verwendet, bedeutet dies nicht, dass er sie immer oder gar ausschließlich nutzt und entsprechend ständig ein Verhalten zeigt, das einem der 16 Typenprofile entspricht.
Im Gegenteil: Die MBTI-Typen zeigen nur zwei der kognitiven Prozesse, die ein Mensch gehäuft bzw. gerne anwendet. Entsprechend haben die Typenprofile den inhaltlichen Schwerpunkt auf typischen Anwendungen dieser Prozesse und darauf wie sich diese verstärkte Anwendung im Alltag bei dem betreffenden Menschen zeigt. Tatsächlich sind wir in der Lage alle acht kognitiven Prozesse auszuüben und können daher auch wie ein anderer Typ nach außen erscheinen. Jeder Mensch ist jedoch in der Regel in einem Prozess besonders befähigt und identifiziert sich damit stärker als mit den anderen Prozessen. Dieser Prozess wird in der Typensprache des MBTI als dominante Funktion bezeichnet. Der zweite Prozess (zweite Funktion) ist oft weniger gut entwickelt, spielt jedoch eine wichtige Rolle als Ausgleich zur ersten Funktion.
Die dominante Funktion eines Typs ist auffallend prägend für seine Identität. Alle anderen Prozesse scheinen sich dem unterzuordnen. Der Mensch ist zwar in der Lage, mehrere Prozesse sogar sehr gut anzuwenden, aber ein Prozess ist besonders stark mit seinem Selbstbild verankert und ist als solcher nicht ohne weiteres mal eben so durch eine andere Funktion ersetzbar. Ein Mensch, der dauerhaft entgegen seiner dominanten Funktion auftritt, wird sich früher oder später überfordern.
Daher halte ich es für unwahrscheinlich, dass ein Mensch sich wirklich in zwei Profilen zu Hause fühlt. Die Profile haben tatsächlich Überlappungen, da die Typen unter sich viele Funktionen miteinander gemeinsam haben. Es gibt allerdings auch Typen, bei denen Überlappungen und die Wahrscheinlichkeit von Entscheidungsschwierigkeiten extrem unwahrscheinlich sind, da hier sehr unterschiedliche Funktionen prägend sind. Beispiel: ESTJ und INFJ oder ESTP und INFP.
Ein vermeintliches Problem des MBTI und insbesondere seiner nicht fachgemäßen Anwendung ist hingegen, dass die Testfragen natürlich durchschaubar sind und ein halbwegs intelligenter Mensch sich seine Traumperson zusammen dichten kann.
Dies gilt für sämtliche Instrumente, die versuchen, die 16 Typen mit ihren dominanten Funktionen durch Selbsteinschätzung zu erfassen. Wie ich bereits an anderer Stelle ausgeführt habe, ist der MBTI jedoch kein Testinstrument im eigentlichen Sinne. Die aus meiner Sicht und auch aus Sicht der Herausgeber gewünschte Verwendung ist die eines Indikators, mit dessen Hilfe der Befragte neue Einsichten über sein Verhalten erhalten kann. Leider wird der MBTI nicht selten dafür verwandt, anderen Leuten Einsichten in die Person des Befragten zu vermitteln bzw. ist der Befragte in einer Situation, wo er diese Einsichten einer dritten Person – zum Beispiel seinen Arbeitskollegen oder gar seinem Arbeitgeber – vermitteln muss. Je nach Verhältnis zu dieser dritten Person wird er mehr oder weniger auch dem Zwang unterliegen, ein Bild von sich zu konstruieren, das die Erwartungen anderer an seine Person erfüllt. Der MBTI ist also leicht manipulierbar und ist insofern als Einstellungstest absolut ungeeignet.
Umso besser eignet sich der MBTI als Coaching-Instrument für Menschen, die versuchen, etwas über ihre Persönlichkeit zu erfahren, um ihre Stärken besser zur Geltung zu bringen und an ihren Schwächen zu arbeiten. Ich lehne den MBTI als Einstellungsinstrument ab, würde ihn jedoch als Berufswahltest neben anderen Quellen hinzuziehen, wenn es wirklich nur um die Unterstützung des Jugendlichen bei der Berufswahl geht.
Aufgrund meiner eigenen Erfahrungen aus der Beobachtung meiner Mitmenschen bin ich überzeugt, dass es tatsächlich eine den 16 Typen entsprechende Dynamik gibt. Allerdings sind die Menschen eines Typs erstaunlich unterschiedlich in ihren Ausprägungen. Daher ist es tatsächlich nicht sinnvoll, irgendwelche verbindlichen Schlussfolgerungen über den Typ und sein Verhalten aufgrund eines MBTI-Tests oder eines ähnlichen Instruments zu treffen.
Der Test trifft Aussagen über die Stärken eines Typs, wie sie sich aus den ersten beiden Funktionen ergeben. Diese sind jedoch als Potential zu verstehen. Der MBTI trifft allerdings keine Aussage darüber, wie gut ein Typ seine Funktionen entwickelt hat. Menschen sind in der Lage ihre Schwächen auszugleichen. Daran ändert auch ein Typenlabel nichts. Auch aus diesen Gründen ist es ethisch nicht vertretbar, den MBTI bei einer Einstellungsentscheidung für oder gegen einen Mitarbeiter bestimmen zu lassen. Die Herausgeber des MBTI stellen explizit heraus, dass dieser Zweck nicht Sinn des MBTI sein kann. Interessenten verweise ich auf diesen Artikel aus dem Blog des internationalen Vertreibers CPP. Wenn ich den Artikel richtig verstehe, geht der Autor davon aus, dass der MBTI im europäischen Ausland gelegentlich missbräuchlich verwandt wird.
Da Menschen mit völlig unterschiedlichem Entwicklungsstand hinsichtlich der acht Funktionen getestet werden, sind die 16 Profile des MBTI tatsächlich zu eng gefasst, um alle Entwicklungsstadien aufzuzeigen, in denen sich ein Mensch hinsichtlich der Verwendung dieser acht kognitiven Prozesse befindet. Dieses Argument ist für mich aber kein Hinweis auf die Nutzlosigkeit des MBTI bzw. des Wissens um die eigenen bevorzugten Prozesse. Tatsächlich gibt es mittlerweile auch Weiterentwicklungen des MBTI, die darauf abzielen, individuelle Unterschiede auch innerhalb eines Typs zu erfassen. Wer sich tatsächlich für die unterschiedlichen Entwicklungsstadien der 16 Typen interessiert und mehr über den Gedanken der Ich-Entwicklung erfahren möchte, den verweise ich auf das exzellente Buch der Psychologin und MBTI-Beraterin Angelina Bennett, “The Shadows of Type”.
Unabhängig von den angewandten Testinstrumenten sind die kognitiven Prozesse, die sie erfassen sollen, auch ohne Messinstrumente sichtbar. Es gibt auch Hinweise auf bestimmte Gesetzmäßigkeiten zwischen den Funktionen. Verschiedene Theorien gehen der Frage nach, inwieweit diese Funktionen eine bestimmte Reihenfolge in ihrer Entwicklung aufweisen. Diese werden kontrovers diskutiert, und die mir bekannten Modelle decken sich nur teilweise mit meiner eigenen Erfahrung. Erwähnenswert finde ich die Arbeit des Wissenschaftlers Dario Nardi zu den acht kognitiven Prozessen. Dieser beschäftigt sich mit Gesetzmäßigkeiten zwischen den Funktionen und den 16 Typen und führte dazu Studien durch. Die Ergebnisse entsprechen meinen eigenen Erwartungen.
Das Argument gegen die Wissenschaftlichkeit des MBTI-Testinventars und gegen die Theorie möchte ich hier nicht diskutieren, da es nicht mein Anspruch ist, ein den Anforderungen einer akademisch betriebenen Wissenschaft genügendes Instrument zur Beurteilung der menschlichen Psyche vorzustellen.
Bei fortgeschrittenem Interesse findest du hier einen weiteren Artikel auf Englisch, der sich so ziemlich mit allen gängigen Argumenten gegen den MBTI und dem zugrundeliegenden Modell auseinandersetzt. Insbesondere setzt er sich auch mit der Frage auseinander, ob der Big Five eine Alternative zum MBTI darstellt.
Ich stimme dir da voll und ganz zu.
Man muss ja bloß bedenken, dass eine Funktion alleine schon die unterschiedlichsten “Level” hat. Oder anders: Nicht jedes “Ne” ist in jedem Ne-Typen ist gleich “stark”.
Celebrity-Types.com schreibt dazu oft: Steve Jobbs “Ni” mag nur “tertiary” (drittmächtigste Funktion) sein, aber es ist vermutlich besser als dein eigenes Ni.
(Wörter wie “besser”, “stark” und “mächtig” dienen hier mehr der Illustration als der Beschreibung einer “Fähigkeit)
Nimmt man dann noch die von dir auch angesprochene zweite Funktion eines Typs und die dadurch entstehenden Dynamiken mit in die Betrachtung hinein, so entstehen zig mögliche Variationen eines Types, je nachdem wie entwickelt die Prozesse alleine UND im Zusammenspiel sind.
Und dann gibt’s es ja noch die dritte und vierte Funktion etc.
Zur Wissenschaftlichkeit: Tja, wie kann man etwas am Menschen nachprüfen, was für viele Menschen nicht zu greifen ist? Es ist eine sehr schwierige zu erlernende Fähigkeit sich selbst einigermaßen objektiv und akkurat zu sehen und zu beurteilen. Um den Mbti (und Jungs Lehren) einigermaßen einsetzen zu können, ist das jedoch eine absolute GRUNDVORAUSSETZUNG!
Oder um es kurz und knackig (und provokant!) zu formulieren:
Nur, wer sich auf den Weg zur Erleuchtung gemacht hat, kann mit “Erleuchtung” überhaupt etwas anfangen!
Es ist völlig klar, dass Menschen, die diese kritische Fähigkeit noch nicht erworben haben, nicht in der Lage sind sich oder andere akkurat einzuschätzen.
Um das nicht zu arrogant klingen zu lassen, sei angemerkt: Ich sehe mich selbst auch noch als absoluten Amateur, was das Wissen über mich selbst betrifft. Aber ich hinterfrage mich selbst zumindest. Und das ist eine Grundbedingung um “Muster” zu finden. Und der Mbti ist nichts anderes als das: Ein Muster.
Genau es ist ein Muster und nicht die absolute Wahrheit über einen Selber. Dafür ist er aber ein gutes Handwerkszeug, wenn man an sich arbeiten möchte. Die Theorie gibt einem Vokabeln an die Hand, um sich auszutauschen und Sachen über sich und andere zu erfahren, die man kaum hätte artikulieren können.