Das Problem mit dem letzten Buchstaben P und J – Teil 1
Wer sich ein Weilchen mit der Typenwelt befasst, wird häufig mit halbwahren Klischees konfrontiert werden – und eines der bekannteren Klischees ist die Vorstellung P-Typen wären schlampig und unorganisiert und J-Typen wären Ordnungsfanatiker und Kontrollfreaks. Da ich selber von diesem Klischee betroffen bin, halte ich einige Ausführungen für angebracht.
P und J stehen nicht per se für Ordnung bzw. Chaos. Gelegentlich bestätigen sich die Vorurteile und ich wage zu behaupten, dass P-Typen mit Chaos in ihrer Außenwelt besser umgehen als J-Typen, aber wie diese Resistenz gegenüber Chaos oder die Liebe für Ordnung ausschaut, ist für jeden MBTI-Typ eigentlich etwas sehr individuelles. Zunächst einmal vorab:
Die Buchstaben P und J im Buchstabencode des MBTI illustrieren den Unterschied zwischen wahrnehmenden und urteilenden Typen. Dies gilt jedoch nur für extravertierte Typen.
Introvertierte Menschen sind hier etwas gehandicapt, aber dazu etwas später.
C. G. Jung unterscheidet bereits in seiner ursprünglichen Typologie zwischen Typen, die eine dominante Wahrnehmungsfunktion (S oder N) haben und solchen, die lieber eine Urteilsfunktion (T oder F) in erster Funktion anwenden.
Wahrnehmende bevorzugen es, Informationen aufzunehmen – sei es durch genaues Erfassen der konkreten Umstände (S) oder auch unter Hinzuziehung nicht völlig sinnlich erfassbarer Informationen (N) -, wohingegen Urteilende lieber Urteile – entweder in Form von persönlichen Wertungen (F) oder unpersönlichen Schlussfolgerungen (T) – fällen. Die Wahrnehmenden werden von C. G. Jung auch als irrationale Typen bzw. die Urteilenden als rationale Typen bezeichnet.
Die Typentheorie hat die ursprünglichen acht psychologischen Typen von C.G. Jung auf 16 Typen erweitert. Allerdings hatte bereits C. G. Jung festgestellt, dass seine acht Typen in dieser Reinform eigentlich nicht auftauchen und von einer zweiten Funktion beeinflusst werden. Diese zweite Funktion ist immer das Gegenteil der ersten Funktion (oder auch dominante Funktion genannt). Wenn die dominante Funktion nach außen zeigt (extravertiert ist), dann muss die zweite Funktion nach innen gehen (introvertiert sein). Handelt es sich bei der dominanten Funktion um eine Wahrnehmungsfunktion (Empfinden oder Intuition), so ist die zweite Funktion eine Urteilsfunktion (Fühlen oder Denken).
Beispiel anhand eines extravertierten Typen:
Tobias ist ein extravertierter Gefühlsmensch. D.h. seine dominante Funktion ist das Fühlen, das er nach außen richtet (Fe). Seine zweite Funktion ist daher auf jeden Fall nach innen gerichtet und dient der Wahrnehmung. Tobias hat beim Test einen höheren Punktwert für Intuition (N) als für Empfinden (S). Daher kommt als zweite Funktion die introvertierte Intuition (Ni) in Betracht. Damit ist Tobias laut Typentheorie ein ENFJ.
Alle Typen, die wie Tobias eine dominante Urteilsfunktion haben, sind urteilende Typen. D.h. sie wenden entweder Te, Fe, Fi, oder Ti als dominante Funktionen an. (Damit ich mir nicht meine Finger wundtippen muss, findest du das Abkürzungsverzeichnis hier.). Die wahrnehmenden Typen bevorzugen hingegen eine Wahrnehmungsfunktion also Se, Ne, Si oder Ni.
Urteilende und wahrnehmende Typen haben eine sehr unterschiedliche Sicht auf ihre Welt. Dieser kleine Unterschied kann durchaus großes Streitpotential bergen, vor allen dann, wenn zwei Typen in derselben Welt zu Hause sind:
… sagen wir ein ENTP und ein ENTJ. Beide fühlen sich besonders in ihrer Außenwelt heimisch (E) und mögen sogar die Intuition (N). Der ENTP mag die Intuition als erste Funktion. Er ist daher ein wahrnehmender Typ. Der ENTJ hingegen ist ein dominanter extravertierter Denker. Er steht auf Urteile. Er ist sich ziemlich sicher wie die Außenwelt sein muss, und arbeitet aktiv daran, die Außenwelt seinen Vorstellungen von Effizienz anzupassen. Für den ENTP ist der Gedanke, die Welt müsse einer bestimmten Grundordnung genügen hingegen der reine Horror. Für ihn gibt es keine schönere Vorstellung als in einer Welt voller unendlicher Möglichkeiten und Entwicklungsszenarien zu leben, die er sich jeden Tag erneut ausmalen kann. Vielleicht entscheidet er sich früher oder später für eine bestimmte Richtung und erschafft gar etwas Neues, aber er will sich auf gar keinen Fall vorstellen, dass es nur die eine Richtung geben kann.
Dieses Beispiel soll dir illustrieren, wie zwei Menschen mit beinahe identischen Präferenzen (ENT) eine ziemlich unterschiedliche Sicht auf die Welt entwickeln können und darüber vermutlich endlose Machtkämpfe ausüben werden, sollten sie im selben Unternehmen angestellt sein und sich dieses Unterschiedes nicht bewusst sein.
Wie bereits oben beschrieben, bestehen alle Typen aus einer Kombi von Urteilsfunktion und Wahrnehmungsfunktion.
Typen, die eine Urteilsfunktion als dominante Funktion haben, mögen in ihrer bevorzugten Welt Strukturen lieber als Chaos. Die Urteile, die sie formulieren, sind letztlich kleine Gesetze, an die sie sich gerne halten.
Wenn es sich um einen extravertiert Urteilenden handelt (wie z.B. ENFJ Tobias im o.g. Beispiel oder besagter ENTJ), dann sind dies Gesetze, die für die Außenwelt gelten. Das heißt, Menschen mit dominanter extravertierter Urteilsfunktion haben im Allgemeinen eine feste Vorstellung, wie ihre Außenwelt zu sein hat und erheben diese Vorstellung gerne zu einem verbindlichen Gesetz. Sie suchen nach Strukturen in ihrer Umwelt und fordern meist auch ziemlich rigoros, dass die bestehenden Regeln von allen beachtet werden.
Es gibt jedoch auch interne Gesetze und introvertiert Urteilende wie INTP, ISTP bzw. ISFP und INFP. Diese sind Liebhaber einer internen Gesetzgebung. Die letztgenannten vier Typen stellen sich selber gerne Regeln auf, an die sie sich halten – und ehrlich gesagt – auch wenn sie es oft nicht zugeben wollen, es wäre ihnen ganz recht, wenn andere Menschen ihre internen Regeln beachten und zumindest im Umgang mit ihnen anerkennen würden.
Urteilende Typen neigen dazu, innerhalb ihrer bevorzugten Welt (E oder I) ein strenges Regime zu führen und die Umsetzung der dort herrschenden Regeln zu überwachen.
Typen, die eine Wahrnehmungsfunktion bevorzugen, sehen die Dinge hingegen etwas lockerer zumindest soweit es ihre bevorzugte Welt (E oder I) betrifft. Sie würden wahrscheinlich von sich sagen, dass sie die Dinge so nehmen, wie sie sind. Dies gilt wohlgemerkt für ihre bevorzugte Welt.
Wahrnehmende Typen brauchen nicht unbedingt strenge Gesetze, ihnen ist es wichtiger, dass sie an die richtigen Informationen kommen.
Während urteilende Typen dazu neigen, unnötige Informationen auszublenden, fällt es den wahrnehmenden Typen hingegen extrem schwer, offensichtliche Missstände, die sich auf ihre eigenen Welt (E oder I) auswirken unter den Tisch zu kehren.
C.G. Jung liefert für diese unterschiedliche Herangehensweise von urteilenden und wahrnehmenden Typen folgende amüsante Beschreibung, über die ich eine Weile nachdenken musste, deren Wahrheitsgehalt ich als „irrationaler“ Mensch jedoch bestätigen kann:
„Vom Urteil des Rationalen (urteilenden Typs) könnte der Irrationale (wahrnehmende Typ) leicht als ein Rationaler minderer Güte dargestellt werden, wenn er nämlich aus dem erfasst wird, was ihm passiert. Ihm passiert nämlich nicht das Zufällige – darin ist er Meister -, sondern das vernünftige Urteil und die vernünftige Absicht sind die Dinge, die ihm zustoßen. Dies ist eine dem Rationalen kaum fassbare Tatsache, deren Unausdenkbarkeit bloß noch dem Erstaunen des Irrationalen gleichkommt, welcher jemanden entdeckt hat, welcher Vernunftsideen höher stellt als das lebendige und wirkliche Vorkommen“.
Ich erinnere mich noch an die frühen Jahre meines Lebens, in denen ich mich manchmal fragte, wieso Menschen aus meiner Sicht völlig widersprüchliche Konventionen und Regeln aufstellen können, sei es in Kindergarten, Schule oder Familie, die man unmöglich einhalten kann ohne sich zu verbiegen, zu verstellen oder gar Schaden zu nehmen. Das heißt, es gibt Gesetze (nicht nur von parlamentarischen Gesetzgebern geschrieben), die kein Mensch offensichtlich in der Lage ist einzuhalten, es sei denn, er spielt irgendwelche Tricks und findet Wege, den Gesetzesverstoß vor sich oder anderen zu verbergen. Mittlerweile bin ich überzeugt, dass es viele Menschen gibt, die gar nicht bemerken, dass sie das Gesetz nicht richtig anwenden, da sie schlichtweg alle entgegenstehenden Informationen ausblenden.
Mama erkennt z.B. dass Mimi zwar keine Schokolade mehr nascht, weil Mama ihr keine mehr kauft, dass Mimi dafür aber Schokolade von ihrem Taschengeld kauft und abends heimlich im Bett nach dem Zähneputzen isst (!), wenn Mama es nicht sieht, wird jedoch ignoriert.
Die eigenen Regeln wirken auf Urteilende wie Brillen, die einen Teil des Farbspektrums wegschlucken. Die gewünschten Teile des Sachverhaltes werden bevorzugt gesehen. Dies hat letztlich den positiven Effekt, dass man das Thema ad acta legen kann und nicht ewig neue Regel ersinnen braucht.
Wahrnehmende hingegen haben ein Gespür für Gesetzesübertretungen und Umgehungen, die ihnen scheinbar ständig in ihrem zu Leben zu begegnen scheinen.
Ich bitte hiermit, schon mal alle rationalen Typen unter meinen Lesern um Nachsicht. Mir ist die Notwendigkeit verbindlicher Regeln auch wenn sie nicht perfekt sind, hinlänglich bekannt. Als irrational denkender Mensch nehme ich nichtdestotrotz des Öfteren hieran Anstoß. (Diesen Einschub verdanke ich einem rationalen Freund, der sich an meinem vorstehend formulierten Gedanken störte, es gebe Gesetze, die kein Mensch einhalten könne.)
Urteilende Typen neigen dazu, Informationen, die ihr Urteil widersinnig und unanwendbar machen auszublenden. Dadurch laufen sie allerdings Gefahr, an überholten bzw. ineffektiven Regeln festzuhalten, die der Komplexität des wahren Lebens nicht gerecht werden.
Wahrnehmende Typen haben hingegen Probleme damit, ein endgültiges verbindliches Urteil aufzustellen, da sie ständig Wege sehen, wie das Urteil umgangen bzw. eine noch bessere Entscheidung getroffen werden könnte. Wenn sie nicht in der Lage sind, alle Eventualitäten (Ni und Si) und weiteren Optionen (Ne, Se) auszublenden, behindern sie sich jedoch auf Dauer selber. Gerade introvertiert Wahrnehmende neigen dazu für alle Entwicklungen, einschließlich der unwahrscheinlichen, vorzusorgen, statt sich nur auf die allgemein wahrscheinlichen Entwicklungen einzustellen. Extravertiert Wahrnehmenden fällt es vor lauter Optionen schwer, sich zu entscheiden. Dabei verpassen sie womöglich den Zeitpunkt, zu dem sie hätten aktiv werden müssen. Dadurch erreicht ein Wahrnehmender gelegentlich weniger als jemand, der seine Bedenken oder Einwände rechtzeitig zur Seite gelegt hat und auf Grundlage einer nicht so perfekten Regelung oder Entscheidung schneller handlungsfähig ist.
Im zweiten Teil zum P und J Problem erfährst du, warum die P und J-Regel des MBTI nicht ganz unproblematisch ist und wie du feststellen kannst, wer denn nun wirklich ein urteilender bzw. wahrnehmender Typ a la C. G. Jung ist.