Jung betont in seinem Werk, dass er sich der Frage nach den Persönlichkeitstypen der Menschen über den zentralen Begriff der Entscheidung nähert.1 Unterschiede im Prozess der Entscheidungsfindung bewirken letztlich die Herausbildung der von Jung beschriebenen Typen.
Obwohl dieser Ansatz sich ungewöhnlich anhören dürfte, verwundert er mich beim näheren Blick auf den Begriff der Persönlichkeit nicht.
Denn was meint der Mensch letztlich, wenn er über Persönlichkeit spricht? Die Versuche vieler, gerade auch laienhafter Psychotests, die Persönlichkeit an äußeren bewertenden Kriterien festzumachen, sind zum Scheitern verurteilt.
Wenn ich einen Mensch als traurig, muffelig, passiv, aktiv, fröhlich etc. beschreibe, so treffe ich damit nur eine Aussage über den Zustand des Menschen, in dem Moment, in dem ich auf ihn treffe. Wir wissen alle, dass es Menschen gibt, die phasenweise schüchtern sind und urplötzlich mit einem Enthusiasmus auf ihre Mitmenschen zugehen können, dass tatsächlich, das Merkmal schüchtern nichts über diesen Menschen an sich aussagt. Gleiches gilt für andere oberflächlich Kriterien. Scheinbar lautstarke Kinder können nichtdestotrotz plötzlich mucksmäuschenstill sein.
Jung hat dieses Problem erkannt und daher etwas tiefer nachgebohrt. Er bleibt nicht am oberflächlichen Eindruck – den der Mensch vermittelt – hängen, sondern versucht zu ergründen, aus welchem Antrieb heraus ein Mensch handelt. Dies bringt ihn letztlich zur Erkenntnis, dass ein Mensch durch seine Handlungen und folglich den seinen Handlungen zugrundeliegenden Entscheidungsprozess geprägt wird.
Um diesen Entscheidungsprozess nachzuvollziehen ist es sinnvoll, sich mit der Arbeitsweise unseres Gehirns auseinanderzusetzen. Nur wenn wir verstehen, wie wir denken und fühlen, können wir uns unser Verhalten erklären. Das Gehirn ist die Instanz, die damit befasst ist, alle Prozesse in unserem Körper zu bündeln und aus den unzähligen Informationen, die es täglich über den Zustand unseres Organismus aufnimmt, die optimalen Entscheidungen zu treffen.
Jung beschäftigt sich in seinem Werk nicht mit den neurobiologischen Grundlagen der Entscheidung. Dies dürfte aber auch angesichts des Standes der Wissenschaft seiner Zeit nicht verwundern.
Meines Erachtens dürften viele aktuelle Erkenntnisse über die Funktionsweise unseres Gehirns, die Theorie von den hier vorgestellten Persönlichkeitstypen zumindest nicht widerlegen und sogar Erklärungen für Phänomene im Zusammenspiel zwischen den Funktionen im Bewusstsein und im Unbewussten liefern. Ich werde in weiteren Artikeln auf bestimmte wissenschaftlich erforschte Fragen zum Gehirn eingehen, soweit sie aus meiner Sicht hier im Blog angesprochene Themen erklären könnten.
Für uns genügt es im Moment zu erkennen, dass der oben erwähnte Entscheidungsprozess sich nach Jung im Bewusstsein des Menschen abspielt, allerdings wird er vom Unbewussten zum Teil erheblich beeinflusst.2
Ziel dieses Entscheidungsprozesses ist es sich selbst zu erhalten, d.h. die Handlungen einzuleiten, die die eigene weitere Existenz unserer Person ermöglichen. Unsere Entscheidungen sollen uns also das Überleben sichern. Obwohl diese Behauptung etwas wuchtig daher kommt, geht es bei der Arbeit unseres Gehirns genau darum. Es ist damit befasst, Tag für Tag, Minute für Minute aus der Fülle der Handlungsmöglichkeiten, die für uns auf lange Sicht vorteilhaftesten auszuwählen.
Während stammesgeschichtlich eher niedrig entwickelte Lebewesen sich dieses Ringens ihrer Steuerungszentrale um die eigene Existenz nicht bewusst sind, besitzen wir als Menschen die Fähigkeit, uns diesen Entscheidungsprozess ins Bewusstsein zu rufen.
Genau dieser bewusste Entscheidungsprozess ist es, auf den Jung bei der Unterscheidung seiner psychologischen Typen abstellt.
Er zerlegt diesen bewussten Entscheidungsprozess in seine Bestandteile und ermittelt dabei die sogenannten vier Bewusstseinsfunktionen:
das Denken,
das Fühlen,
das Empfinden und
die Intuition.
Diese vier Grundfunktionen des Bewusstseins helfen dem Menschen eine Vorstellung von sich und seiner Umwelt zu erhalten, um Entscheidungen zu treffen, die es ihm ermöglichen sich seiner Umwelt optimal anzupassen.
Jung erkannte die Existenz dieser Grundfunktionen, indem er seine Mitmenschen beobachtete. Vor allen Dingen durch die Arbeit mit seinen psychisch erkrankten Patienten, die ihm ihren Leidensweg schilderten, stellte er fest, dass erhebliche Unterschiede bestanden beim Erleben und Einordnen von Geschehnissen. Er bemerkte, dass Mitmenschen ganz andere Dinge wahrnehmen und wichtig nahmen als andere Menschen und zugleich schienen die Menschen wiederum unterschiedliche Konsequenzen aus dem Wahrgenommenen zu ziehen.
Er stellte fest, dass die Menschen bei der Anwendung der einzelnen Funktionen, Schwerpunkte setzen. D.h. wir alle neigen dazu eine der Funktionen in unserem Alltag zu bevorzugen und andere Funktionen zum Teil sogar aus dem Bewusstsein heraus zu drängen.
Außerdem beobachtete er, dass die Grundfunktionen sich in unterschiedliche Richtungen zu bewegen scheinen. D.h. die Grundfunktion führt entweder nach innen zum Subjekt oder laienhafter ausgedrückt zum Innenleben des Anwenders oder sie kann sich nach außen zum Objekt oder vereinfacht gesprochen zur Umgebung richten.
Je nachdem welche Grundfunktion ein Mensch hauptsächlich in seinem Leben verwendet und in welche Richtung er die Funktion anwendet, ergeben sich bestimmte Eigentümlichkeiten in seinem Verhalten. (Artikel zur Richtung der Grundfunktion und Artikel zur Dominanz einer Funktion).
Die Kombination der vier Grundfunktionen mit den verschiedenen Richtungen der Anwendung, d.h. Introversion oder Extraversion, ergeben acht verschiedene Arbeitsprozesse, die im Bewusstsein abzulaufen pflegen und uns letztlich zu einer Entscheidung befähigen.
Diese Arbeitsprozesse werde ich der sprachlichen Einfachheit halber in Zukunft als Funktionen bezeichnen.3 Sie sind zumeist nur teilweise im Bewusstsein eines Menschen vorhanden bzw. werden einzelnen Menschen so gut wie nie bewusst. Außerdem laufen die ins Bewusstsein dringenden Funktionen in den Menschen in unterschiedlicher Intensität ab.
Die jung‘schen Typen ergeben sich letztlich aus der individuellen Schwerpunktsetzung in diesem Entscheidungsprozess. D.h. der psychologische Typ nach Jung ist identisch mit der am meisten im Bewusstsein der jeweiligen Person verankerten Funktion.
- C.G. Jung, Band 6 „Psychologische Typen“ , Patmos Verlag S. 565 in Vortrag „Psychologische Typen“ gehalten am Internationalen Kongreß für Erziehung, Territer 1923, erschienen in Zeitschrift für Menschenkunde I/1 (1925) ↩
- In diesem Zusammenhang lässt sich die Frage, ob wir tatsächlich einen freien Willen haben oder nicht doch fremdgesteuert sind diskutieren. Falls ich Zeit und Muße habe, werde ich dazu einen Artikel einstellen. ↩
- Sollte ich den Begriff der Grundfunktion wählen, so benenne ich die Funktion, ohne ihre Richtung nach Innen oder Außen herauszustellen. ↩