Das Problem mit dem letzten Buchstaben P und J – Teil 2
Im letzten Beitrag habe ich bereits angedeutet, dass es für introvertierte Menschen schwieriger ist sich mit Hilfe des MBTI einzuordnen.
Ich habe versucht zu umreißen, was wahrnehmende und urteilende Typen laut C. G. Jung tatsächlich ausmacht. Beide Typen gehen unterschiedlich mit Regeln um. Wahrnehmende sind eher auf die Informationen fixiert, die hinter einer Regel stehen. Urteilende haben hingegen die Regel selbst im Auge.
Diese Regeln gelten nicht nur in unserer Außenwelt in Form von Konventionen, Stil- und Etikettefragen, Bauplänen, Gesetzesvorschriften etc., sondern wir stellen auch interne Regeln auf, an die wir uns halten. So müssen wir für uns selber herausfinden, was funktioniert und was Hokuspokus ist. Wir klären für uns, ob wir gerne Gespensterbahn fahren und wann wir die Sauna verlassen wollen und wir entscheiden selber, ob wir unser Geld für ein großartiges Weihnachtsbankett ausgeben oder vielleicht doch lieber für eine Weltreise sparen.
Ähnliches gilt für Informationen. Auch hier gibt es eine Richtung nach innen und außen. Wir erhalten nicht nur Informationen über unsere Umwelt, sondern wir empfangen auch ständig Informationen aus unserem Inneren.
Der MBTI und vergleichbare Instrumente (einschließlich des hier verwandten Tests) zielen mit ihren Fragen zu Wahrnehmung und Urteilen auf die bevorzugte Einstellung in der Außenwelt ab.
Dabei wird unterstellt, dass introvertiert Urteilende tatsächlich verstärkt ihre Wahrnehmungsfunktion in die Außenwelt richten und introvertiert Wahrnehmende ihre Außenwelt strukturiert und geordnet mögen und die Fragen entsprechend beantworten.
Diese Vermutung ist jedoch nicht unproblematisch.
Problem Nr. 1: Introvertierte Testanwender verstehen die Fragestellung anders als der Testanbieter es gerne hätte.
Leider verstehen viele Anwender der Tests die Testfragen nicht „richtig“ – und wozu auch, schließlich liest man nicht gleich ein Handbuch, um einen Test zu machen. Viele introvertierte Testanwender neigen dazu, die Fragen nach dem P und J auf ihre dominante Funktion zu münzen. Entsprechend verstehen introvertierte Testanwender die Fragen gerne mit Blick auf ihre Einstellung zu Wahrnehmung und Urteilen im Allgemeinen. Daher kommt es häufig vor, dass sie die P und J betreffenden Fragen im MBTI-Fragebogen und auch in allen anderen ähnlich funktionierenden Tests auf ihre dominante Funktion münzen. Obwohl die Fragen den Umgang mit der Außenwelt ermitteln sollen, zielen sie oft unbeabsichtigt auf das entsprechende Pendant in der Innenwelt.
Aus diesem Grund sollten Typen, die sich hinsichtlich ihrer Introversion sicher sind unbedingt auch ihre dominanten Funktionen ermitteln statt sich nur auf die mit dem Test ermittelten Präferenzen zu verlassen. Nicht selten versteckt sich hinter einem INTJ eigentlich ein INTP, der nur deshalb eine J-Präferenz erzielt hat, weil er die J-P-Fragen – die auf die Außenwelt zielen – mit seinem inneren Bedürfnis nach Struktur verwechselt hat. Auch INFJs neigen dazu, sich in ihren verträumten Phasen spontaner einzuordnen, als sie tatsächlich im Umgang mit der Außenwelt auftreten und erzielen dann irrtümlich das Testergebnis INFP. Ein Blick auf den Inhalt der dominanten Funktion kann letzte Zweifel ausräumen.
Problem Nr. 2: Gemiedene zweite Funktion
Probleme bereitet der Umstand, dass alle Typen – egal ob introvertiert oder extravertiert – bei der Ausübung ihrer zweiten Funktion der sogenannten Hilfsfunktion zurückhaltender sind. Dies gilt umso mehr, je stärker sie eine der Welten (E oder I) der anderen vorziehen. Dieses Phänomen verursacht selbstverständlich keine Probleme bei extravertierten Typen, da diese ja die Fragen mit Rücksicht auf ihre dominante „Wohlfühl“funktion in ihrer bevorzugten Welt (E) lesen. Extravertierte lassen sich daher zumeist leichter zuordnen, wenn es um die Dimension P und J geht.
Introvertierte Menschen, die noch sehr jung oder schlichtweg unreif sind, tendieren hingegen dazu, in der Außenwelt die Spielregeln ihrer Innenwelt anzuwenden. Die zweite Funktion entwickelt sich nach Auffassung der meisten Typentheoretiker erst um die Pubertät herum bzw. im Laufe des zweiten Lebensjahrzehnts und nicht selten darüber hinaus.
Tatsächlich empfiehlt es sich für introvertierte Menschen, in ihrer Außenwelt eine ihrer Innenwelt entgegenstehende Einstellung einzuschlagen (dazu mehr in meinem nächsten Beitrag zur zweiten Funktion). In der Praxis ist die ausreichende Hinzuziehung der zweiten Funktion jedoch nur bedingt der Fall. Letztlich gehört es zu den Grundgedanken der Typentheorie, dass eine unterentwickelte zweite Funktion Probleme bei der Persönlichkeitsentwicklung verursacht.
Problem Nr. 3: Durchbruch der minderwertigen Funktion
Ein weiteres Problem besteht darin, dass gerade Typen mit einer unterentwickelten zweiten Funktion verstärkt in ihre minderwertige Funktion driften. Die minderwertige Funktion wiederum hat dieselbe Orientierung bezüglich P und J wie die dominante Funktion und richtet sich aber in die weniger bevorzugte Welt.
Bsp: Ein INFJ hat die dominante Funktion introvertierte Intuition. Seine minderwertige Funktion ist das extravertierte Empfinden. Beide Funktionen sind Wahrnehmungsfunktionen.
Fazit:
- Die Grundregel, dass alle P-Typen im Umgang mit ihrer Außenwelt einen wahrnehmenden offenen Umgang bevorzugen und J-Typen in ihrer Außenwelt lieber organisiert und strukturiert auftreten, ist für Introvertierte Menschen nur bedingt anwendbar. Diese Regel kann man für alle extravertierten Typen gelten lassen. Für introvertierte Typen sollte man diese Regel jedoch nicht als Gesetz lesen sondern sie eher als eine Empfehlung verstehen.
- Für alle Menschen mit einer extravertierten dominanten Funktion lässt sich aus dem vierten Buchstaben tatsächlich ableiten, ob sie eine wahrnehmende oder urteilende Funktion bevorzugen, für introvertierte Menschen ist dies genau umgekehrt.
- Wer ein I am Anfang hat und ein P am Ende ist ein urteilender Typ. Seine Urteile sind introvertiert und betreffen ihn selber.
- Wer ein I am Anfang hat und ein J am Ende ist ein wahrnehmender Typ. Seine Wahrnehmung ist nach innen gekehrt.
- Urteilende und wahrnehmende Typen auf einen Blick:
Urteilend: ENTJ, ESTJ, ENFJ, ESFJ sowie INTP, ISTP, INFP, ISFP
Wahrnehmend: ENTP, ENFP, ESTP, ESFP sowie INTJ, INFJ, ISTJ, ISFJ,
Zurück zum im vorigen Beitrag angesprochenen Klischee, P-Typen seien unorganisiert und mögen spontane Auftritte wohingegen J-Typen gerne Pläne schmieden und deren Verwirklichung überwachen.
In jedem Klischee steckt nicht zuletzt ein kleines Körnchen Wahrheit. Für extravertierte Typen (EJs und EPs) stimmt dieses Klischee im Allgemeinen. EJs lieben Regeln im Außen, befolgen diese zumeist gewissenhaft und setzen diese auch gerne gegenüber Dritten durch. Aufgrund ihrer dominanten Funktion sind sie hier in ihrem Element. ESJs halten zumeist akribischer an Regeln fest als ENJs, soweit diese Regeln die konkrete Organisation des Alltags betreffen.
Ebenso sind EPs zumeist glücklicher, je spontaner sie agieren dürfen und je weniger eingeengt durch fremde Regeln sie im Alltag sind.
IJs hingegen sind gelegentlich zu sehr damit befasst, sicherzustellen, dass eine externe Regel wirklich anwendbar ist. Dadurch erscheinen sie oft nicht ganz so strukturiert wie die extravertierten J-Typen. Zumindest sind sie eher bereit eine bestehende Regel in der Außenwelt abzuwandeln, da es ihnen wichtiger ist, dass die Regel richtig (Sprich: In Einklang mit ihrer subjektiven Sichtweise) angewandt wird.
ISJs sind zumeist deutlich organisierter in Alltagsdingen als INJs, die konkreten Details zumeist wenig Beachtung schenken, solange das Gesamtbild stimmt bzw. die richtige Richtung eingeschlagen wird.
IPs haben ebenso wie die EPs Probleme mit restriktiven Außenregeln. Im Gegensatz zu den EPs haben sie jedoch oft sehr feste eigene Regeln. Während es EPs vor allen darum geht, sich in der Außenwelt frei zu bewegen, sind IPs eher daran interessiert, dass die Außenwelt nicht ihren eigenen Regeln widerspricht. Zumeist trauen sie sich jedoch nicht zu, ihre Regeln offensiv anderen Leuten gegenüber zu verteidigen und ziehen es oft vor, sich Nischen in der Außenwelt zu suchen, in denen ihre Regeln anerkannt werden.