Introvertiertes Fühlen am Beispiel des INFP verstehen und entwickeln – Teil 1

Es gibt vielleicht keinen Menschen, der das Zitat von Carl Rogers „Was am Persönlichsten ist, ist am Universellsten“ besser versteht als der INFP.

Schon in jungen Jahren verspüren INFPs eine starke Neigung, auf ihre Emotionen zu achten. Sie beobachten ihre Reaktionen auf bestimmte Situationen ganz genau. Auf diese Weise gelangen sie zu einer sehr nuancierten Vorstellung von ihrem eigenen Gefühlsleben.

Mit einer gewissen Reife erkennen sie, dass jeder Mensch der Held seiner eigenen Geschichte ist. Wenn sie den Erfahrungen anderer Menschen zuhören, erfahren sie nebenbei etwas über sich selbst.

Bei INFPs ist alles subjektiv. Sie merken recht schnell, dass persönliche Gefühle in einer Leistungsgesellschaft geringer geschätzt werden als objektive Sichtweisen und effiziente Produktionsabläufe.

INFPs haben oft große Träume, ohne die praktischen Schritte zu unternehmen, um diese in die Realität umzusetzen.

INFPs sehnen sich nach einer tiefen Bestätigung ihrer authentischen Emotionen. Sie fühlen sich oft nicht in der Lage, ihre differenzierten Gefühle in der Außenwelt vollständig auszudrücken. Dies kann zu Gefühlen der Einsamkeit oder Distanz zu denen führen, mit denen sie sich gerne verbinden würden.

Wenn INFP sich klar werden, was ihnen wirklich wichtig ist, können sie sich besser auf ihre Ziele konzentrieren und sich zu deren Umsetzung motivieren. Dann können INFPs zu einer unaufhaltsamen Kraft in der Welt werden.

Das introvertierte Fühlen -von Personality Hacker treffend auch als Authentizität – bezeichnet, zu einem gesunden Prozess zu entwickeln, ist entscheidend, um ein großartiger INFP zu werden. Dieser Prozess erzeugt in INFPs ein ethisches Grundgerüst, eine klare Lebensführung und Willensstärke, ihren Werten auch im Konfliktfall treu zu bleiben. Hierdurch lernen sie Mitgefühl zu entwickeln, Kunst zu schaffen und die Beherrschung von emotionalem Aikido.

Sich seiner emotionalen Reaktionen jederzeit bewusst zu sein, verursacht ethische Komplikationen. In der einen Situation kann sich eine Person auf eine bestimmte Weise fühlen; hingegen in einer scheinbar identischen Situation völlig anders. Anwender von introvertiertem Fühlen müssen lernen, den Kontext ihrer Reaktionen einzuschätzen: Sind ihre Reaktionen völlig subjektiv oder basieren sie auf bestimmten Prinzipien, die als Orientierung für zukünftiges Verhalten dienen können? Was ist eine wirklich ethische Handlung? Wer die volle emotionale Kraft aller Verhaltensweisen spürt, stellt sich solche Fragen häufig und erstellt hierdurch nebenbei eine persönliche Liste, in der Verhaltensweise als ethisch vertretbar oder nicht vertretbar eingeordnet werden.

Da die meisten Verhaltensweisen in ein Spektrum fallen, zeigen sich INFPs den meisten Handlungen ihrer Mitmenschen gegenüber ziemlich entspannt. Eine Person mag grob oder stumpfsinnig sein, aber wenn sie nicht gegen einen Grundwert oder wahres Prinzip des INFPs verstößt, wird das Verhalten wahrscheinlich vergessen oder sogar unbemerkt bleiben. Sobald jedoch gegen einen Grundwert des INFPs verstoßen wird, registriert der Authentizitätsprozess die verletzende Handlung sofort als nicht akzeptabel und der INFP beschäftigt sich mit der Frage, wie dieser Verstoß geahndet werden soll.

An diesem Punkt können sie ungewöhnlich leidenschaftlich, empört und aggressiv auftreten. Deshalb ist es unglaublich wichtig, die eigenen Grundwerte zu kennen und sie regelmäßig zu überarbeiten. Für einen Anwender von Authentizität ist es unerlässlich, sich nicht einfach auf das zu verlassen, was sich gerade gut anfühlt. Er sollte sich nicht auf Werte versteifen, die in jungen unerfahrenen Jahren entstanden sind. Wenn die Grundwerte eines Menschen in der Jugend festgelegt und nicht überprüft werden, kann ein solcher Mensch weltfremd, selbstversunken, naiv oder gar egoistisch wirken.

Eine gut entwickelte Authentizitätsfunktion erzeugt Grundwerte, die sowohl aussagekräftig als auch anpassungsfähig sind. So wie sich Menschen verändern und wachsen, sollten sich auch die eigenen Grundwerte ändern und mit ihnen wachsen. Wenn ein INFP sich selbst mit der Zeit besser kennenlernt, werden seine Grundwerte eine natürliche Folge größerer Selbsterkenntnis sein.

 Übung um den Authentizitätsprozess zu spüren und zu entwickeln:

Unsere Grundwerte sind Leitprinzipien für unsere Lebensführung. In allen Situationen bestimmen Grundwerte, ob ein Handeln richtig oder falsch ist. Dadurch erkennen wir, ob wir auf dem richtigen Weg sind:

Nimm ein Blatt Papier. Notiere alle Verhaltensweisen, die du für richtig oder falsch hältst unabhängig von der Situation.

Nimm dir ausreichend Zeit für die Übung: Stunden, Tage, sogar Wochen. Schau dir diese Liste gerne regelmäßig an und verfeinere sie, während du mehr über dich selbst erfährst. Du kannst auf diese Weise auch regelmäßig Tagebuch führen und dabei alle Dinge notieren, die dich am Tag mit deinen Gefühlen beschäftigt haben.

Anschließende Übung (wenn du deine Verhaltensweisen schon eine Weile beobachtet hast):

Wenn du aufgeschrieben hast, was sich für dich richtig oder falsch anfühlt, erstelle eine Liste deiner fünf wichtigsten Werte, die du nicht verletzen möchtest:

z. B: Loyalität, Großzügigkeit etc.

Innere Ausrichtung und Überzeugung

Jeder hat schon einmal innere Konflikte erlebt, aber die dominante Funktion des INFP – das introvertierte Fühlen oder auch „Authentizität“ genannt – weiß, dass ein solcher Zwiespalt nur die Spitze des Eisbergs ist. INFPs konzentrieren sich darauf, sich selbst treu zu bleiben und wissen, dass es nicht nur eine Stimme in ihrem Inneren gibt; vielmehr gibt es ein ganzes Wirrwarr von inneren Stimmen, die alle nach Aufmerksamkeit heischen.  Es kann für INFPs schwierig sein, zu entscheiden, welcher Stimme sie folgen sollen. Denn jede Stimme hat ihre eigenen Vorstellungen.

Die Aufgabe des Authentizitätsprozesses besteht darin, genau zuzuhören, was jede innere Stimme erzählt und Prioritäten zu setzen. Was davon ist wichtig und richtig und erfüllt meine Bedürfnisse wirklich?

Es ist schwer genug dem inneren Gremium zuzuhören, darüber hinaus liegt es auch in der Verantwortung der Authentizität, die Stimmen des Gremiums in Einklang miteinander zu bringen.

Wenn sich diese verschiedenen Stimmen nicht miteinander vereinbaren lassen, so ist es die Aufgabe des Authentizitätsprozesses zu bestimmen, welche Teile des Gremiums zu einem bestimmten Zeitpunkt auf der Bühne stehen sollen. Die einfachsten Entscheidungen sind solche, die keine inneren Konflikte heraufbeschwören und die mit den eigenen Überzeugungen übereinstimmen. Die Momente, in denen alle inneren Stimmen völlig übereinstimmen, sind wunderschöne Momente und erzeugen einen solchen Schwung, dass sich ein INFP sehr stark motiviert fühlen kann.

Für Anwender des Authentizitätsprozesses ist es schwierig, motiviert zu sein, wenn sie sich noch unsicher fühlen, aber sobald Klarheit herrscht, können INFPs tatkräftig an der Umsetzung ihrer Vorstellungen arbeiten und hier außergewöhnlich viel Energie reinstecken.

Die Führung dieses Gremiums der inneren Stimmen ist eine Fähigkeit, die erst entwickelt werden muss ähnlich der Fähigkeit eine Personengruppe gut anzuleiten.

Für einen INFP ist es unerlässlich, zu lernen, Prioritäten zu setzen. Das bedeutet Bedürfnisse und Wünsche zu verfolgen, die mit den eigenen Grundwerten in Einklang sind und nicht den Stimmen nachzugeben, die ihm sagen, was sich im Moment gerade gut anfühlt.

Für INFPs ist es wichtig, eine gesunde Beziehung zu ihren Überzeugungen aufzubauen. Wenn Authentizität noch in den Kinderschuhen steckt, konzentriert sich dieser Prozess auf das gute Gefühl, Recht zu haben. Tatsächlich kann dieses Gefühl im Recht zu sein süchtig machen.  Diese Sucht kann dazu führen, dass ein INFP nur noch jene Stimmen zählt, die seine unreifen Vorstellungen von Gerechtigkeit teilen und gleichzeitig abweichende Stimmen bei der Abstimmung im Gremium unterdrückt.

Dieses Verhalten wird unweigerlich von quälenden Selbstzweifeln begleitet, da sich die weggedrückten Stimmen weiterhin Gehör verschaffen wollen und immer wieder auftauchen werden.

Selbstvertrauen entsteht dadurch, dass man nach abweichenden Stimmen sucht, sich mit ihnen zusammensetzt, schwierige Fragen stellt und darüber nachdenkt, was die Antworten für die Identität des INFP bedeuten. Wenn einige dieser Stimmen ungesund sind und böse Absichten haben, liegt es in der Verantwortung des INFP, diesen Teil von sich selbst zu heilen oder sogar zuzulassen, dass die giftigen Teile von ihm sterben. Es ist ein schmerzhafter Prozess, der sich für Authentizitäts-Anwender buchstäblich wie der Tod anfühlen kann, aber es ist ein entscheidender Aspekt des Selbstmanagements und der Selbstführung.

(Kleine Anmerkung: Da ich oft mit INFP im Coaching arbeite, habe ich diese Passagen aus dem Buch „Personality Hacker“ von Antonia Dodge und Joel Witt in Teilen übersetzt und teilweise umformuliert ausgedrückt, um es für ein deutschsprachiges Publikum verständlich auszudrücken.)