Jede dominante Funktion steht im Wechselspiel mit einer anderen Funktion. Diese andere Funktion hat C. G. Jung als “minderwertige Funktion” bezeichnet. Sie wird u.a. auch von einigen Vertretern des MBTI-Modells “vierte Funktion” genannt. Sie entspricht dem ebenfalls von C. G. Jung geprägten Begriff des Schattens. Zur besseren Verständlichkeit empfehle ich, sich die dominante und die vierte Funktion als die beiden Seiten einer Münze vorzustellen. Sie sind untrennbar miteinander verbunden, können jedoch nicht gleichzeitig betrachtet werden. Tatsächlich sind die dominante und die vierte Funktion auch im Gehirn nicht zur gleichen Zeit im Bewusstsein aktiv. Sie sind allenfalls nacheinander bewusst anwendbar. Das heißt, die übermäßige Anwendung der bevorzugten dominanten Funktion führt automatisch zur Vernachlässigung des ebenfalls wichtigen Inputs der vierten Funktion.
Da aber beide Funktionen im Anpassungsprozess zwischen der Innenwelt und der Außenwelt notwendig sind, führt die Vernachlässigung der minderwertigen Funktion zu einem Kompensationsdruck der Psyche. Da der wichtige Input der vierten Funktion zu lange vernachlässigt wurde, hat der Betroffene im Umgang mit seiner Umwelt bzw. mit den eigenen Bedürfnissen Schwierigkeiten.
Dieses Problem wird vom Organismus als Notstand betrachtet, und entsprechend werden Gegenmaßnahmen eingeleitet, auf die der Mensch keinen bewussten Einfluss mehr hat. Der Betroffene fühlt sich veranlasst, Verhaltensweisen an den Tag zu legen, die nicht mehr zu seinem durch die dominante Funktion geprägten Selbstbild gehören. Entsprechend fühlt sich dieses Verhalten für den Betroffenen fremd an, oder es wird als peinlicher Ausrutscher betrachtet.
Da die vierte Funktion im Allgemeinen vernachlässigt wird, ist sie oft auch unterentwickelt, und entsprechend sind die durch sie ausgelösten Reaktionen oft ungelenk bzw. mit den Worten von C. G. Jung von archaischem Charakter. Der Betroffene zeigt eher typische Verhaltensweisen eines dominanten Anwenders dieser vierten Funktion, nur dass er hierbei nicht so zuversichtlich und geübt ist. Zum Beispiel neigen Introvertiert Intuitive (INFJ und INTJ) dazu das Verhalten von extravertierten Sensoren (ESTP und ESFP) zu zeigen. Obwohl sie sonst besonnen und geplant sind und sich eher mit ideellen Themen befassen, agieren sie plötzlich spontan auf alle mögliche Reize von außen, sind leicht ablenkbar oder übermäßig mit dem Entdecken und Genießen von materiellen Dingen befasst.
Wenn die minderwertige Funktion zu derart untypischen Verhaltensweisen führt, ist dies immer ein Warnzeichen für eine Schieflage im seelischen Haushalt, das Anlass sein sollte, alte Verhaltensweisen zu überdenken. Jeder Typ hat bestimmte Strategien, um eine Balance in seinem seelischen Haushalt herzustellen. In der Regel trägt eine gut entwickelte zweite Funktion zur schnellen Stabilisierung bei. Für weitere Hinweise empfehle ich die Lektüre von Naomi Quenk,“ Was that really me?“(leider nur auf Englisch erhältlich).
Von der unbewussten Lenkung durch die minderwertige Funktion ist deren bewusste Verwendung zu unterscheiden. Viele Typen nutzen ihre vierte Funktion gerne, wenn sie keinem besonderen Druck im Alltag ausgesetzt sind und experimentieren hierbei mit dem ungewohnten Blickwinkel, den ihnen ihre vierte Funktion auf die Welt ermöglicht. Oft werden hierdurch kreative Kräfte freigesetzt.
Aus folgender Tabelle ist ersichtlich, welche Funktionen sich aufeinander beziehen und zugleich ausschließen.
Dominante Anwender | Funktion <——– | ——->Funktion | Dominante Anwender |
INTJ und INFJ | introvertierte Intuition | extravertiertes Empfinden | ESFP und ESTP |
ISTJ und ISFJ | introvertiertes Empfinden | extravertierte Intuition | ENFP und ENTP |
ESTJ und ENTJ | extravertiertes Denken | introvertiertes Fühlen | INFP und ISFP |
ESFJ und ENFJ | extravertiertes Fühlen | introvertiertes Denken | INTP und ISTP |
Sehr gelungener Artikel, weiter so! 🙂
Wichtig wäre noch zu erwähnen bzw. zu betonen (da sehr verführerisch!), dass die minderwertige Funktion nicht wirklich “trainiert” werden kann, wie z.B. bei einem Muskel. Im Idealfall bilden die ersten beiden (und eventuell die dritte Funktion) einen ausgleichenden Anker zu der unbewussten und archaischen minderwertigen Funktion.
Wie du schon sagst ist eine gut entwickelte zweite (Mentor-)Funktion der Schlüssel zur Individuation, da man in diesem Fall alles hat: Eine Funktion zum Wahrnehmen (Perceiving) der Welt und eine Funktion, um Entscheidungen (Judging) zu treffen.
Mehr davon! 🙂
Vielen Dank für deine Ermutigung. Ich finde das Wissen um den Zusammenhang beider Funktionen wichtig. Es erklärt, warum ein Mensch tatsächlich anders handelt als er es wahrscheinlich von sich selbst (also seinem Typ) erwarten würde. Bei genauerer Betrachtung ist die dominante Funktion eigentlich eine Behinderung. denn sie verschließt einen den Blick auf andere Funktionen, die auch ihre Daseinsberechtigung haben. Die dritte Funktion ist natürlich auch wichtig. Darüber schreibe ich ein anderes Mal.
Dominante Funktion = Behinderung = super Formulierung!
Schließlich ist ein zu großer Fokus auf die dominante Funktion der Grund, warum die minderwertige Funktion dann Probleme macht (funktioniert wie ein Gummi-Band, an dem zu sehr von der einen Seite aus gezogen wird). Soweit kommt es, wenn man seine eigene Sicht auf die Welt ins Extrem treibt…